»Alle Frauen eint, dass sie trotz ihrer vermeintlichen neuen Freiheiten nahe am Abgrund tanzen«
Es gibt wenig, was das Deutschland der Weimarer Republik so sehr fasziniert hat wie der Tanz. Sofort kommen uns Bilder von den Revuegirls in den Sinn – lange Beine, kurze Röcke und die Vermarktung des weiblichen Körpers –, im Publikum sitzen Männer. Doch inwiefern liegt in der Tanzwelt, die Du hier porträtierst, auch eine emanzipatorische und feministische Kraft?
Die Welt des Charleston ist von Anfang an von großen Ambivalenzen geprägt. Es ist ein Tanz, der zum ersten Mal keine klassische Paarbildung erfordert, man kann die Figuren auch ohne Partner tanzen. Viele junge Frauen waren nach dem Ersten Weltkrieg alleinstehend, und sie wollten sich trotzdem amüsieren. Im Tanz fanden sie einen Weg, den bürgerlichen Moralvorstellungen der Kaiserzeit eine deutliche Absage zu erteilen, denn die neuen Tanzstile feierten den weiblichen Körper als stark, unabhängig und sexuell aktiv. So avancierte Swing zum Massenphänomen der Weimarer Republik. Doch gleichzeitig wurden die Körper der Tänzerinnen auf den großen Bühnen stark kommerzialisiert, und sie waren erneut Objekte für den männlichen Voyeur. Außerdem ging der Körper der Einzelnen zunehmend in der Masse unter. Ein maschinelles Ideal wurde geprägt, nach dem die Glieder der Tänzerinnen wie ein Uhrwerk funktionieren mussten. Diese Ästhetik der Masse, gegenüber der das Individuum nichts mehr zählte, nahm letztlich die menschenverachtenden politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts vorweg.
In Deinem Roman gibt es vier Protagonistinnen: Wally, Gila, Alice und Thea. Inwiefern sind diese Frauen typisch für die Zeit, in der sie leben? Was würdest Du sagen, unterscheidet sie, und warum hast Du Dich für diese vier Frauen entschieden?
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Meine Erzählerinnen repräsentieren verschiedene Möglichkeiten eines Frauenlebens in der Weimarer Republik. Wally ist die Älteste der vier, eine Selfmade-Woman, die eine starke Vision von Kunst und Erfolg hat. Sie heuert für ihre Tanzgruppe die junge Alice an, eine jüdische Fabrikarbeiterin aus dem Scheunenviertel, aber auch ein bürgerliches Mädchen wie Thea, die als sogenannte höhere Tochter auf ihre Privilegien verzichtet, weil sie sich davon Freiheit verspricht. Gila schließlich ist eine Sekretärin und repräsentiert damit den neuen Frauentypus der 1920er Jahre, der in vielen zeitgenössischen Romanen beschrieben wird, so zum Beispiel bei Irmgard Keun. Ihre Rolle ist ambivalent – sie ist eine gesellschaftliche Aufsteigerin, finanziell auf den ersten Blick unabhängig, aber in ihrer Lebensrealität dennoch äußerst prekär. Alle Frauen eint, dass sie trotz ihrer vermeintlichen neuen Freiheiten nahe am Abgrund tanzen.
In vielen Deiner Romane ist das Setting im Berlin der Weimarer Republik angesiedelt. Was interessiert Dich an dieser Zeit besonders?
Die 1920er Jahre sind eine Zeit der unüberwindbaren Kontraste, und deren Aufeinanderprallen bietet unheimlich viel Zündstoff und Inspiration. Einerseits wird hier direkt nach der vernichtenden Wucht des Ersten Weltkriegs die erste deutsche Demokratie geprobt. Die Menschen trieb ein unglaublicher Erneuerungswille an, sie wagten tiefgreifende Veränderungen, warfen die alte Ordnung über Bord und feierten das Leben. Ganz besonders die Frauen erfanden sich völlig neu und erschlossen sich neue Handlungsspielräume, von denen noch wenige Jahre zuvor niemand zu träumen gewagt hätte. Doch gleichzeitig ist es eine Zeit bitterster Armut durch Inflation und Kriegsschulden, schwerster Kriegstraumata, Gewalt, Kriminalität und zunehmender politischer Kämpfe. Wir alle kennen das bittere Ende dieses gesellschaftlichen Experiments, aber es hätte auch anders ausgehen können. Mich fasziniert es, darüber nachzudenken, wie Menschen sich in solchen Extremsituationen entscheiden – und wie es auch anders hätte laufen können.
Nicht alle Figuren in Deinem Roman lieben das Tanzen. An einer Stelle zitierst Du den bekannten Schlager »Schöner Gigolo, armer Gigolo«. Welche Rolle spielen die männlichen Figuren in Deiner Geschichte?
Ich liebe meine männlichen Figuren im Roman sehr, auch wenn ich in erster Linie die Geschichte von Frauenleben erzählen wollte. Besonders die jüngeren Männer waren in der Weimarer Republik von den Gewalterfahrungen sehr belastet, die sie während des Kriegs gemacht hatten – ob als Kinder traumatisierter Familien oder selbst als junge Soldaten. Der Horror des Ersten Weltkriegs kann nicht stark genug betont werden, niemand entging den psychologischen Auswirkungen dieser grausamen Kriegsmaschinerie. In den zwanziger Jahren ergab sich in den Vergnügungsstätten und Tanzsälen Berlins dann ein neues Berufsfeld für versehrte Offiziere und verarmte Adlige. Sie waren gebildet, konnten hervorragend tanzen und Konversation machen, wurden jedoch im Zeitalter der Abrüstung nicht mehr gebraucht. So entstand der Beruf des Gigolo – eines professionellen Eintänzers, der alleinstehende tanzwütige Frauen (es herrschte Männermangel) in den Bars unterhielt und ihnen, wenn gewünscht, auch sexuelle Dienstleistungen anbot. Billy Wilder arbeitete beispielsweise 1926 im »Eden« am Ku’damm als Eintänzer. Für viele dieser Männer war der Beruf natürlich nur eine Notlösung, sie mussten trotz ihrer schlimmen Erfahrungen gute Miene zum bösen Spiel machen und lächelnd tanzen, bis die Schuhsohlen qualmten. Eine meiner Lieblingsfiguren, Jo, ist ein solch trauriger Clown und steht damit für viele verlorene Seelen der gar nicht so goldenen 1920er Jahre.