Eine Liebeserklärung an Lesende, Bücher und jene, die sie verkaufen
Im Laufe ihrer langen Karriere hat Louise Erdrich nicht nur ihr erzählerisches Talent, sondern auch ein feines Gespür für aktuell brisante Themen und die Erfahrungen marginalisierter Menschen bewiesen. Zuletzt wurde sie für »Der Nachtwächter« mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Der Roman basiert auf dem außergewöhnlichen Leben von Erdrichs Großvater, der den Protest gegen die Enteignung der amerikanischen Ureinwohner:innen vom ländlichen North Dakota bis nach Washington trug. Die Aneignung der Weißen und die Entwertung indigener Existenzen sind ihre ständigen Themen.
»Jahr der Wunder« – Eine pandemische Geistergeschichte
Auch in ihrem neuen Roman, »Jahr der Wunder«, verflicht Louise Erdrich diese Erfahrungen mit ihrem politischen Scharfsinn zu einer kraftvollen, charmanten Erzählung mit verblüffender Aktualität.
Für ein ebenso schreckliches wie lächerliches Vergehen wird die Heldin Tookie zu 60 Jahren Gefängnis verurteilt. Tookie ist wenig überrascht von der Härte des Gerichts, sind doch Indigene die am stärksten überrepräsentierte Bevölkerungsgruppe der zu Unrecht Inhaftierten im amerikanischen Strafvollzug.
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Nach zehn Jahren jedoch kommt sie durch die unermüdliche Arbeit ihres Anwalts frei und bekommt einen Job bei Birchbark Books in Minneapolis – bei genau der Buchhandlung, die Louise Erdrich auch im echten Leben besitzt.
Tookie genießt ihren unerwartet zurückerhaltenen Alltag. Doch schon bald wendet sich ihr neu gefundenes Glück, als Flora, eine treue wenn auch nervige Kundin, »ein Möchtegern der ausdauernden Sorte«, an Allerseelen stirbt und fortan als Geist im Laden ihr Unwesen treibt. Besonders Tookie wird von ihr heimgesucht. Sie erhält rätselhafte Zeichen von Flora und versucht herauszufinden, was die hartnäckige Kundin zwischen den Regalen umhergeistern lässt.
Vor dem Hintergrund der Covid-19 Pandemie, rassistischer Polizeigewalt und Protesten der Black-Lives-Matter-Bewegung muss sich Tookie den Geistern der Vergangenheit und ihrer indigenen Herkunft stellen und sich wie alle in der Stadt fragen, was sie den Lebenden und den Toten schuldet. Als Birchbark Books in der plötzlich durch das Virus lahmgelegten Stadt als »systemrelevant« eingestuft und besser denn je besucht wird, zeigt sich auch, wie erhellend Literatur in düsteren Zeiten sein kann.
Eine Hommage an den unabhängigen Buchhandel
So ist »Jahr der Wunder« insbesondere eine Liebeserklärung an Lesende, an Bücher und an jene, die sie verkaufen. Erdrich hat Birchbark Books als Ort beschrieben, an dem die Stimmen indigener Schriftsteller:innen gehört werden können, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Während die »Ver-Mall-ung«, wie sie es nennt, in den Vereinigten Staaten weiter fortschreitet, ist Birchbark Books das, was immer seltener wird – eine kleine, unabhängige Buchhandlung.
Das liebevoll kuratierte Sortiment von Birchbark Books bietet eine breite Auswahl an Büchern von und über indigene Autor:innen und indigenes Leben und zeugt von dem Glauben an das Potenzial großer Literatur. Gleichzeitig ist die Buchhandlung als Veranstaltungsort von Lesungen, Buchvorstellungen und Diskussionen ein Treff- und Angelpunkt des intellektuellen Lebens in Minneapolis.