»Eine Sprache der Gefühle«
Lieber Jan Böttcher, in Ihrem neuen Roman erzählen Sie erstmals aus dem Berlin der 1920er und 1930er Jahre. Wie sind Sie auf den historischen Stoff gekommen?
Ich bin vor einigen Jahren einer künstlerisch-aktivistischen Gruppe beigetreten und fragte mich noch, warum. Was erwartete ich persönlich, war ich nicht zu eigenbrötlerisch, wohin konnte die Reise im Kollektiv gehen? Damals stieß ich auf den Psychologen Kurt Lewin und seine Untersuchungen zu Gruppendynamik und Lernatmosphären, die er seit den späten 1930ern in den USA durchführte. Und dann waren es im Grunde nur drei oder vier Klicks in Lewins Vergangenheit, schon befand ich mich im Berliner Stadtschloss von 1920.
Im Zentrum des Romans stehen Figuren, die reale historische Vorbilder haben.
Ja, hinter meiner Figur Leonard Zadek steht Kurt Lewin, als sehr junger Psychologieprofessor. Prominente Rollen spielen auch die Doktorandinnen Bluma Zeigarnik aus Lettland und Tamara Dembo, die aus Aserbaidschan nach Berlin kam. Es ist auffällig, dass Lewin einige jüdische Frauen aus Osteuropa in seinen Bann zog, die eigentlich in Berlin hatten Literatur studieren wollen. Lewins Kolloquium widmete sich einem ganz neuen Forschungsfeld, den Handlungen und Affekten des täglichen Lebens. Alltagsbeobachtungen wurden hier zum Antrieb der wissenschaftlichen Entwicklung, die Begrifflichkeiten wurden in real time entwickelt, mit der Methode des lauten Denkens.
Im Roman spielt das Kulinarische eine tragende Rolle. Die Figur Helene arbeitet als Kellnerin im Schwedischen Café. Es gibt Kaffee mit Punschrolle, Zimtschnecken. Gab es denn das Schwedische Café in Berlin wirklich?
Das gab es, ja, und die Entdeckung des Cafés hat mich besonders gefreut, denn ich habe wirklich eine Affinität zum Norden, habe hier in Berlin Skandinavistik studiert und in Stockholm gelebt. Die kleine Café-Konditorei war eben der Ort, an dem sich das Kolloquium regelmäßig traf. Sie lag schräg gegenüber vom Hauptportal des Stadtschlosses, die Adresse war Schlossplatz Nr. 3. Untereinander nannten die Psycholog:innen den Ort das Schwedische Café, die Betreiberfamilie hieß Lagergren.
Wie haben Sie es angestellt, dass man die Stadt Berlin mit allen Sinnen erlebt, wenn man in den Roman eintaucht?
Für mich ist das ein genereller Anreiz beim Schreiben: zu erfassen, was die Gemeinschaft dem Individuum abverlangt. Insofern ist mir das übervolle, elektrifizierte Berlin von 1928 nicht fremd, ich sehe es als einen Schauplatz der menschlichen Überforderung. Hinzu traten für dieses Buch aber auch Kontexte, Kunstformen jener Jahre, die so starke Spuren hinterlassen haben, dass man mit ihnen als Autor einen Umgang finden muss. Döblins CutUp-Verfahren in »Berlin Alexanderplatz«, Irmgard Keuns weibliches Ich-Sprechen in »Das kunstseidene Mädchen«, Joseph Roths essayistische Reportagen, um nur drei Modernitäten zu nennen. Das sind ja alles Formen der Dichte in einer dichten Stadt.
Für eine Erkenntnis, die vielleicht auch nur in der Großstadt entstehen konnte, steht der Name einer der Psychologinnen, Bluma Zeigarnik. Sie fand heraus, dass wir uns doppelt so gut an unabgeschlossene Handlungen erinnern wie an Dinge, die wir zuende gebracht haben.
Der Zeigarnik-Effekt. Als ich davon las, war sofort klar, dass die Unabgeschlossenheit auch ein Thema des Romans werden muss. Oder nehmen wir das Phänomen der »Psychischen Sättigung«. Anita Karsten untersuchte, wann wir geistig erschlaffen und nicht mehr zugänglich für Informationen sind. Das ist im Grunde die Entdeckung des Burnouts, im Berlin der 1920er Jahre. Wann und wo sonst hätte man es entdecken sollen?
Unter all diesen Pionierleistungen nimmt das Rosen-Experiment die tragende Rolle im Roman ein. Dabei geht es um die Erforschung von Gefühlen, darum, an der Psychologischen Fakultät erstmals eine Sprache für Wut und Ärger zu finden. Sind die Gefühle tragende Figuren des Romans?
Die Universität ist der Raum, in dem die Gefühle erforscht werden. Und sie ist gleichzeitig der Raum, in dem alle Beteiligten ihre Gefühle zu kontrollieren suchen. Was das Rosen-Experiment von Tamara Dembo betrifft: Es ist deshalb eine Steilvorlage für einen literarischen Text, weil es einen genauen Aufbau, aber eine diffuse Wirkung hat. Die Versuchspersonen müssen an einen entfernten Gegenstand, eben an eine Rose, heranreichen, ohne dass sie dafür ein bestimmtes Bodenquadrat verlassen dürfen. Das ist erstmal ein Rätsel. Über Hilfsmittel ist es zweifach lösbar, eine dritte Lösung aber gibt es nicht. Und nun begann erst die Arbeit für Tamara Dembo. Sie bestand auf der dritten Lösung. Und sie protokollierte, wie sich der Ärger bei den Versuchspersonen auf unterschiedlichste Weise Bahn brach. Manche hat sie vier Stunden und länger festgehalten und beobachtet.
Originalskizze des Experiments
Das Experiment hat allegorischen Charakter. Es ist, als spiegele sich im Stadtschloss, was auch draußen auf den Straßen zunimmt, die Unruhe, Wut, die Ressentiments der Weimarer Republik. Sehen Sie Parallelen zwischen der Welt des Romans und unserer Gegenwart heute?
Ich bin nicht der erste, der den Bogen spannt. Aber ja, gerade die alte Beschreibung des Expressionismus als »Gleichzeitigkeit des Ungleichen«, diese Definition beschreibt doch unser Leben ein gutes Jahrhundert später wieder adäquat. Wir leben mit Krieg, Klimakrise, Migration und Epidemie. Der Mensch ist nicht dafür gemacht, das auszuhalten, und wo private Reiberei immerhin noch Wärme erzeugen kann, wird gesamtgesellschaftlich leicht eine Hitze daraus. Statt produktiver Streitkultur erleben wir – sogar in emanzipatorischen Kreisen – immer öfter Wut und Überreiztheit.
Wenn Sie es sich wünschen dürften, neben welchen anderen Büchern sollte der Roman im Buchladen liegen?
Am schönsten wäre es natürlich, wenn da alle Bücher lägen, die mich bei der Arbeit am Roman begleitet haben. Gabriele Tergit, Karl Schlögel, Walter Benjamin, Margarete Pratschke, Ernst Glaeser, Anne-Christin Saß, das ergäbe einen reich mit Fiktionen und Sachbüchern gedeckten Tisch. Und es würde aufzeigen, dass auch jedem Romanschreiben ein Gruppengespräch innewohnt.